Wir spazieren auf dem Küstenpfad in Richtung der Landzunge. Die frühe Abendsonne taucht die estnische Ostseelandschaft in ein mildes, weiches Licht. Der Rest der Gruppe ist schon einige Meter voraus, ich hänge wie gewöhnlich hinterher. Da sehe ich, dass alle an einer bestimmten Stelle stehen geblieben sind und wie gebannt auf den Schilfstreifen neben unserem Pfad schauen und zeigen. „Komm schnell, da sitzen kleine braune Vögel ganz nah!“

Potzblitz, da sitzen sie tatsächlich: zwei junge Schilfrohrsänger am Rande des Röhrichts, ein dritter Jungvogel ganz in der Nähe. Völlig furchtlos! Hocken da auf ihrem Halm, schauen hierhin, mal dorthin (wer beobachtet hier eigentlich wen?), putzen sich. Ab und zu kommt ein vorsichtiger Altvogel aus dem Dickicht des Schilfs in die Nähe und bringt Futter.

Die Szene rührt alle an. Wie kann man so wenig Angst haben vor uns Menschen, den gefährlichsten Tieren von allen? Woher diese Arglosigkeit, dieses Zutrauen, das scheinbare Fehlen von jeglichem Fluchtimpuls? Liegt es daran, dass sie noch keine schlechten Erfahrungen gemacht haben? Oder dass sie die Nähe der Geschwister als Versicherung empfinden?

Vielleicht genießen sie auch einfach vor allem die wärmenden Strahlen der Abendsonne. Und verlassen sich darauf, dass wir das zwischen ihnen und uns liegende Brennnesseldickicht schon nicht überwinden werden.

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Der Zauber dieses unbeschwerten Augenblicks, er stimmt auch nachdenklich: Könnte alles vielleicht auch ganz einfach sein?
6. September 2023
Sebastian Schröder-Esch
(www.schroeder-esch.de)
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Ja, vieles wäre sicher einfacher und friedlicher, wenn sich die Lebewesen (insbesondere die Menschen) mit mehr Vertrauen und weniger Misstrauen und Neid begegnen würden. Aber nach meiner Wahrnehmung bewegen wir uns im Moment leider eher in die entgegengesetzte Richtung.
Ich erinnere mich noch gut an die Szene mit den Jungvögeln und habe dazu meine eigene Theorie. Auch ich war eher im hinteren Teil der Gruppe unterwegs und konnte die kleine Vogelfamilie zunächst gar nicht sehen, sondern nur die Kommentare meiner Mitreisenden hören.
„Guck mal, da sind kleine Spatzen“, „Nein, ich glaube, das sind junge Buchfinken“. Dann hörte man deine Stimme freudig rufen: „Das sind junge Schilfrohrsänger!“, was wiederum durch die Flüsterpost als „Das sind Teichrohrsänger“ bei den Vorderleuten ankam 😉
Wahrscheinlich haben sich die Vögelchen einfach nur schlapp gelacht, sich über unser ornithologisches Rätselraten köstlich amüsiert und deshalb ganz vergessen zu fliehen (oder uns einfach nicht mehr ernst genommen ;-).
Vielen Dank für den kleinen Vogelartikel und tausend Dank für die tolle Reise!
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Was man nicht alles so erfährt im Nachhinein… Interessant! Deiner Theorie von der geballten Inkompetenz, die anderen die Angst nimmt, kann ich auch einiges abgewinnen 😉 So oder so ein schöner Moment auf einer schönen Reise. Freut mich sehr, dass es Dir (ebenfalls) gefallen hat!
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Den ganz Glücklichen zeigt sich manchmal durch eine undichte Stelle im Himmel ein Stück vom Paradies, damit die Ahnung, wie es auch sein könnte, nicht völlig verloren geht. Vielen Dank lieber Sebastian, daß Du uns bei diesem Erlebnis über Deine Schulter schauen läßt!
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Gerne geschehen, Oliver! Deine Formulierung mit dem undichten Himmel finde ich hier tatsächlich sehr (zu)treffend. Man muss es halt einrichten, dass man auch mitbekommt, wenn sich mal wieder so ein paradiesisches Löchlein auftut…
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Da habt ihr ja ein tolles Erlebnis gehabt. Klasse 👍👍👍
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Oh ja, das haben wir! Ganz getreu Deinem Motto: „bleibt neugierig“!
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Sehr cool 🙂
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