Ich reise mit dem Nachtzug aus Kiew an.




Ich bin zum ersten Mal in Lugansk (Luhansk), ja zum ersten Mal überhaupt im Osten der Ukraine, dem Donbass. Mein Russisch ist dürftig, mein Ukrainisch (das ich hier ohnehin nicht brauchen würde) gar nicht erst vorhanden. Daher bin ich froh, dass man mich vom Bahnhof abholt.
Es sind milde Herbsttage im Spätseptember, fast noch sommerlich. Die nächste Woche werde ich hier für ein Seminar verbringen.

Ich werde keine tragende Rolle bei der Veranstaltung spielen, was mir durchaus recht ist. Es gibt Katya, die Vertreterin der örtlichen NGO, und Oleg, den erfahrenen Medientrainer aus Kiew. Diese beiden werden sich um alles Wesentliche kümmern, während ich die deutsche Partner-NGO repräsentiere und mir ansonsten alles interessiert anschauen kann.
Hin und wieder machen wir Exkursionen, die uns von unserem modernen Seminarzentrum am Stadtrand nach Lugansk hinein führen.


Der Rundfunkanstalt von Lugansk statten wir einen ausführlichen Besuch ab. Man kommt sich bisweilen vor wie in einem Technikmuseum, während gleich daneben modernstes Equipment zum Einsatz kommt. Heute, fast zwölf Jahre später, frage ich mich, was dort wohl seit 2014 gesendet wurde, und was in den letzten Tagen.










Lugansk ist eine große Industriestadt. Wir fahren im Kleinbus, der „Marschrutka“, durch die breiten Straßen. Eine Orientierung bekomme ich nicht ansatzweise hin, aber das macht weiter nichts. Wir sind immer in der Gruppe unterwegs, und es sind stets genug Ortskundige dabei, die niemanden aus den Augen lassen. Außer aus Lugansk kommen die ukrainischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Donetsk.






Die Stadt kommt mir vor wie eine typische post-sowjetische Metropole. Touristen besuchen sie (auch zu dieser Zeit) sicher nicht zahlreich, aber dafür kann man viel Leben in den Straßen beobachten, ganz normal und authentisch. Bei mancher Werbung und Aufschriften im öffentlichen Raum wundere ich mich über das Ukrainische, denn im Alltag scheint hier ansonsten alleine Russisch gebräuchlich zu sein.






Lugansk ist an sich vielleicht keine Schönheit, aber es gibt viele interessante Ecken zu sehen und Plätze, an denen man sich gerne aufhält. Offenbar genießen viele Menschen die entspannte Atmosphäre dieser Spätsommertage. Ich fühle mich jedenfalls wohl, zumal ich immer in netter und fürsorglicher Gesellschaft bin.
Und natürlich gibt es viele Gebäude und Denkmäler, die aus der Sowjetzeit stammen und offenbar eine ruhmreiche Tradition fortführen. Lugansk ist stolze (ehemalige) Produktionsstätte von Lokomotiven.










Was ist das jetzt: Ein Reisebericht? Eine unschuldige, nostalgische Erinnerung? Der verzweifelte Versuch eines Außenseiters, eine als harmonisch und bereichernd erlebte Vergangenheit zurückzuholen und die himmelschreiende Katastrophe ungeschehen zu machen? Und warum habe ich diesen Artikel nicht bereits 2014 geschrieben?
Natürlich habe ich auch Fotos der Menschen, die mich während meiner Woche in Lugansk im September 2010 umgeben haben. Die Aufnahmen zeigen junge, sympathische Menschen, die gerne zusammen die Zeit verbringen. Ich zeige sie hier nicht, da ich niemanden in Schwierigkeiten bringen möchte. Nur zu wenigen habe ich noch persönlichen Kontakt.
Dima, damaliger Teilnehmer, ist professioneller Übersetzer und sitzt in diesem Moment in der Zentrale des Ukrainischen Radios in Kiew und verteidigt sein Land, wie er sagt. Katya, die damalige Organisatorin, musste nach 2014 das Lugansker Gebiet verlassen und in einen Ort westlich der Demarkationslinie umziehen, außerhalb der „Volksrepublik“. Ich bin mit ihr im Kontakt. Sie schreibt, niemals im Leben habe sie etwas derartiges für möglich gehalten wie das, was sie gerade jetzt erlebt, durchlebt und hoffentlich überlebt.
In meinen Gedanken bin ich bei ihnen allen.
26. Februar 2022
Sebastian Schröder-Esch
(www.schroeder-esch.de)
ich bin tief betroffen und dein Bericht ist so konträr zu dieser Betroffenheit … es ist unglaublich was nur wenige Menschen mit Größenwahn alles anrichten können …. sg.Robert
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Ich bin aufgewühlt. Unzählige Gedanken schwirren mir durch den Kopf.
Von unendlichem Leid und dem Verlust von Heimat; von den freiheitlich-demokratischen Werten Europas und machtgierigen alten Männern; von „geplanter Entnazifizierung“ und einem ukrainischen Staatspräsidenten mit jüdischen Wurzeln; von einer grünen Aussenministerin und deutschen Waffenlieferungen….
Ich schaffe es nicht, alle meine Gedanken zu sammeln, geschweige denn, diese in Worte fassen.
Danke Sebastian!
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