Komplett

Wie hängt wohl die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und bewerten, mit unseren Hoffnungen und Prägungen zusammen? Welche Rolle spielen unsere jeweiligen Erwartungen an das Erscheinungsbild dieser Umwelt, wie steht es um (bewusste oder unbewusste) symbolische Zuschreibungen? Ein Beispiel.

Es gibt da dieses große Naturschutzgebiet im Süden von Hessen, also in der Mitte Deutschlands. Der Reinheimer Teich – eine wunderschöne Kulturlandschaft, die ich so oft wie möglich besuche (gerne auch im Winter, wie ich an anderer Stelle unlängst gezeigt habe). Dort ist die Landschaft offen, der Blick schweift über Wiesen, Wasser, und Schilf, darüber wölbt sich ein ausgedehnter (und bisweilen dramatisch bewölkter) Himmel.

Natürlich kommen dort auch viele Tiere vor, insbesondere Vögel. Man hat den Eindruck von ganz viel Natur.

Unverzichtbarer Bestandteil dieses Ensembles ist aber auch ein Bauwerk von Menschenhand. Die Scheune!

Sie ist ein imposantes Gebäude, das trotz seiner Größe ausgewogen und gar nicht klotzig wirkt und das einfach nicht zu wegzudenken ist aus der Landschaft des Reinheimer Teichs.

Das war schon immer so. „Immer“ heißt in diesem konkreten Fall jetzt: auch zu meinen Schulzeiten, lange ist’s her, als ich in Fahrradentfernung des Naturschutzgebiets wohnte und entsprechend oft zu Besuch war. Damals habe ich aber immer eine gewisse Wehmut und Sehnsucht empfunden, wenn mein Blick auf die Scheune fiel. (Und damit meine ich nicht den physischen Schmerz an dem Tag, als ich als Grundschüler – verbotenerweise ins Innere der Scheune eingedrungen – dortselbst in einen rostigen Nagel trat).

Nein, ich habe jahrein, jahraus immer auf das leere, große Wagenrad gestarrt, das schon damals auf dem Dachfirst angebracht war. Mir war klar, hier sollen eigentlich Weißstörche brüten. Vielleicht hatten sie das auch irgendwann getan, vor meiner Zeit. Ich kannte es aber immer nur als Leerstelle, als Manko, vielleicht sogar als mahnenden Hinweis auf unsere zunehmend ausgeräumte Agrarlandschaft und den damit verbundenen ökologischen Niedergang unserer, ja, Heimat. Denn Weißstörche waren in Mitteleuropa damals ausgesprochen seltene Vögel.

Auch wenn es pathetisch und ausgedacht klingen mag: Ich habe damals (1990?) die Scheune und das verwaiste Wagenrad angeschaut und mir gesagt, dass ich wahrscheinlich niemals dort einen Weißstorch sehen würde – und dass ich mich lieber früher als später damit arrangieren solle.

Es kam anders, zum Glück. Jahre später war nämlich meine Freude umso größer, als ich von einer Rückkehr der Weißstörche zum Reinheimer Teich hörte. Es dürfte Anfang oder spätestens Mitte der Nuller-Jahre gewesen sein, als mein lange gehegter Wunschtraum endlich in Erfüllung ging und sich auf besagtem Wagenrad ein besetzter Horst befand. Meine erste Begegnung mit Störchen an „meinem“ Reinheimer Teich habe ich als absolut aufregend in Erinnerung. Ich hatte das Gefühl, erst jetzt war das Gebiet (und wie ich es wahrnahm) komplett, die Leerstelle war geschlossen. Manche Dinge wandeln sich eben doch zum Guten, wenn man nur lange genug wartet…

Inzwischen (ich bin nach wie vor regelmäßiger Besucher dort) sind die Störche zumindest im Sommerhalbjahr ein sehr vertrauter Anblick im Gebiet. Sie brüten auf der Scheune (natürlich!), aber auch auf weiteren Bäumen der gesamten Umgebung. Sie kommen zusammengenommen auf sicherlich zwei Dutzend Brutpaare im Naturschutzgebiet und dem weiteren Umfeld. Stets sieht man sie in den Wiesen allein oder in kleinen Gruppen stehen und nach Nahrung suchen. Die Kulturlandschaft, so scheint es, ist nur mit und dank ihnen vollständig.

Aber Hand aufs Herz: So attraktiv ein Weißstorch in einer Feuchtwiese oder hoch in der Luft auch sein mag – der schönste Anblick ist für mich natürlich, wenn er das Scheunendach ziert. Der wilde Vogel verschmilzt förmlich mit der Architektur, und diese wiederum ist perfekt in die umgebende Landschaft integriert.

Wer will da noch von einem Gegensatz zwischen Kultur und Natur sprechen?

Dann ist meine Erwartung erfüllt, die Welt ist in Ordnung, ich bin erleichtert.

Gute Nacht, ihr Scheunenstörche!

23. Juli 2023
Sebastian Schröder-Esch
(www.schroeder-esch.de)


Entdecke mehr von sogesehen

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Veröffentlicht von Sebastian

Geographer, naturalist and photographer (www.schroeder-esch.de). Based in Germany, but always keen to travel and explore

5 Kommentare zu „Komplett

    1. Vielen Dank, Horst! Gerne habe ich Dich/Euch zu meiner geliebten Scheune mitgenommen, einem meiner Lieblingsplätze überhaupt. Ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich für irgendwann eine Fortsetzung der „Reinheimer-Teich-Saga“ ankündige…

      Gefällt 1 Person

  1. Hallo Sebastian, klasse Bilder, wohltuende Gedanken! Hier spürt man, wie sehr Du mit diesem Stück Land verbunden bist. Vielen Dank, daß Du uns immer wieder mal mitnimmst an Deinen Lieblingsplatz.

    Like

    1. Das habe ich gerne getan, Oliver, und es freut mich, dass Du Dich hast mitnehmen lassen. Zumindest auf die imaginäre Reise. Umso mehr freut mich die Aussicht auf eine ganz reale Reise mit Dir und anderen in wenigen Wochen!

      Like

Hinterlasse eine Antwort zu Oliver Freymark Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..