Welche Zeit des Jahres ist die trübste, dunkelste, freudloseste? Allgemein sagt man ja, das seien der November und der Dezember. Die Tage sind kurz, das Wetter oft nass und grau. Das volle Depri-Programm. Noch bis vor ganz kurzem hätte ich mich dieser Meinung ohne Umschweife angeschlossen, ganz klar.
Und dann plötzlich der Sinneswandel.

Wie es dazu kam: Vor ein paar Tagen habe ich eine kleine Exkursion in ein bekanntes Naturschutzgebiet im Oberrheintal unternommen (die Wagbachniederung). Ich war ohnehin in der Nähe und dachte mir, ich schaue mir mal die Teiche an und fotografiere vielleicht den einen oder anderen Vogel. Aber kaum laufe ich über den ziemlich vermatschten Hauptweg ins Gebiet rein, wird der Regen stärker, und dann verwandelt er sich auch noch in Schneegraupel. Ich so: Was mache ich hier überhaupt? Was soll der Quatsch?
Aber gut, so oft bin ich nicht in diesem an sich schönen Gebiet, also schaue ich mich nochmal ein bisschen um. Wenigstens eine symbolische halbe Stunde möchte ich hier schon verbringen, und wenn es nur aus Höflichkeit ist.
Da, ein Fuchs!

Den sehe ich nicht alle Tage. Er ist natürlich weit weg, aber immerhin. Dann raschelt es dicht hinter mir im Schilf – vielleicht ein Wildschwein?

Nicht ganz. Aber auch ein Reh sehe ich natürlich nicht alltäglich, geschweige denn in Foto-Entfernung. Also hat es sich doch ein bisschen gelohnt. Ich bin versöhnt. Und da mir Feuchtigkeit und Kälte jetzt doch spürbar in die Glieder kriechen, mache ich mich innerlich abmarschbereit, um den geordneten Rückzug anzutreten.
Da nehme ich im Augenwinkel eine diffuse Bewegung wahr. Etwas hektisch und chaotisch, aber zugleich auch irgendwie strukturiert. Sicher hundert Meter entfernt von mir am Rand des Weges. Ich sehe (und höre) genauer hin. Ich wollte sowieso in dieser Richtung zurücklaufen.


Aha, ein Vogelschwarm. Finken sind es, und zwar ganz überwiegend Stieglitze. Alles in allem vielleicht fünfzig oder sechzig Tiere. Schwer zu sagen, denn sie teilen sich immer wieder auf. Schön, die haben sich also hier zu einem größeren Trupp zusammengeschlossen. Mal näher hingehen und gucken, was sie so treiben.


Hin- und herfliegen, das tun sie. Immer wieder setzen sie sich in einem der Bäume am Weg ab, ruhen kurz aus, checken die Lage. Dann schwingen sie sich erneut in die Lüfte und fliegen hektisch ins Röhricht, wo es offenbar an der einen oder anderen Distel noch etwas zu holen gibt.



Diese Kerlchen sind fast immer in Bewegung. Sie sitzen längstens einmal zwanzig Sekunden in den vertrockneten Stauden, schon geht es wieder hoch in die Luft, wo eine Runde gedreht und nach der nächsten lohnenden Sitzgelegenheit Ausschau gehalten wird. Einigermaßen synchron sind die Abläufe, aber bei weitem nicht so streng koordiniert wie in einem Starenschwarm. Irgendwie auf sympathische Art ungeordnet.



Ich weiß nicht, inwieweit die hier gezeigten Aufnahmen die Stimmung in dieser Situation zu vermitteln vermögen. Vor allem nämlich, was das für ein wunderbar quirliger, bunter Haufen Tiere war, die pausenlos in Bewegung blieben (sich aber von meiner Anwesenheit gar nicht weiter stören ließen) und dabei so viel Lebendigkeit und Vitalität ausstrahlten. Und das bei plus zwei Grad und Nieselregen in der Nachmittagsdämmerung. Großartig!

Wie war das jetzt nochmal mit dieser Jahreszeit: trüb, dunkel, freudlos? Völlige Fehlanzeige! Hier war das pralle Leben zu beobachten, in bunten Farben und mit so viel Energie und Schwung, dass jegliche Trübsal chancenlos blieb. Der reinste Stimmungsbooster war das.
Dezember, Du bist mein neuer Schwarm!

12. Dezember 2021
Sebastian Schröder-Esch
(www.schroeder-esch.de)
Echt klasse … deine Bilder als auch Worte. Danke dafür. Frohe Weihnachten wünscht
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Vielen Dank!
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Tolle Farbtupfer in der tristen Landschaft.
Alles Liebe
Michel
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Vielen Dank! 🌞
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Irgendwie fand ich die Landschaft nach einer Weile gar nicht mehr so trist, muss ich sagen. Aber klar: ein sonniger, frischer Tag hat schon eine andere Ausstrahlung…
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Danke Sebastian für die Ablenkung vom Dezemberblues. 😉 Die Fotos sind echt super. Diese Location steht nächstes Jahr auf meiner Liste,allerdings hoffe ich dann auf Purpurreiher. Viele Grüße Horst
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Vielen Dank, Horst! Ja, die berühmten Purpurreiher vom Waghäusel… Vielleicht bekommen wir es ja hin, dass wir zusammen hinfahren bzw. uns dort treffen? Aber vorher kommt Nordfriesland dran, wenn ich bitten darf!
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Absolut beeindruckend, Sebastian! Das war sicher ein besonderes Seh- und Hörerlebnis. Mir gefallen diese bunten schönen Vögel auch, aber ich bin schon glücklich, wenn sich ab und zu mal zwei oder drei auf meinen Birnbaum verirren. Die Schwarmfotos sind klasse und mit angelegten Flügeln könnten es auch fliegende Fische sein 😉
Da habt ihr „beiden“ ja eine tolle Ausbeute mit nach Hause gebracht, sehr schön!
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Vielen Dank, Steffi! Es freut mich, wenn Dir die Aufnahmen zusagen. Herbst und Winter sind eigentlich keine schlechte Zeit zum Beobachten von Stieglitzen, weil sie eben gerne an Disteln und andere Stauden gehen und dann auch wenig scheu sind. Einen derart großen Schwarm habe ich allerdings auch erst selten gesehen, vielleicht sogar noch nie
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