Die Szene: Eine Handvoll Männer steht herum auf einer Art Plattform, über ihnen der abendlich-blaue Himmel. Sie sind mehr oder weniger jung, mehr oder weniger sportlich, ja teilweise athletisch. Alle tragen Hemd und Jeans in einer Mischung aus coolem, ländlichem Chic und Arbeitskleidung.
Das Rätsel: Wer sind sie und was tun sie da? Tun sie überhaupt irgendetwas? Warten sie auf etwas Bestimmtes?

Sind es vielleicht Bauarbeiter? Eher nicht, denn sie tragen keinerlei Schutzkleidung. (Und dass ich mich mit dieser Thematik seit Village People bestens auskenne, habe ich hier im Detail dargelegt.) Was immer sie dort oben tun, geschieht jedenfalls eindeutig mit großer Konzentration und Ernsthaftigkeit, und es mutet irgendwie zeitlos an.
Also?
Hm, ich fürchte, so kommen wir nicht weiter. Treten wir also einen Schritt zurück und nehmen eine etwas weitere Perspektive ein.

Das Puzzle: Aha, die stehen auf dem Dach eines LKWs. Der parkt rückwärts zu einer Ansammlung von Menschen hin, und dann sind da noch diverse Absperrungen. Und eine Reihe stattlicher Palmen. Aber bei der Lösung unseres Rätsels hilft das alles nur bedingt weiter.
Es muss noch ein weiteres Bild her.

Das Puzzle setzt sich weiter Stück für Stück zusammen. Hier haben wir es also mit einer Art Volksfest zu tun. Darin scheinen Pferde eine gewisse Rolle zu spielen, und auf ihren Rücken Leute in schicken Hemden – etwa die gleichen wie bei den Kollegen auf dem LKW-Dach? Und diese massiven Absperrungen, sind die etwa zum Schutz vor den Gäulen? Wohl kaum.
Die Auflösung: Wir befinden uns im Örtchen Le Grau-du-Roi an der französischen Mittelmeerküste. Ein zentraler Akteur ist nicht auf den Bildern zu sehen, und zwar der Stier (taureau) bzw. die Stiere. Diese stehen im Zentrum der zehntägigen fête du Grau im September. Im Hinterland der Küste gibt es verschiedene Viehzucht-Betriebe (manade), die unter anderem die Camargue-typischen schwarzen Stiere halten. Die Beziehungen zur lokalen Kultur und den Traditionen sind vielfältig, und das spiegelt sich auch im Programm des örtlichen Festivals wider. Stiere werden in Transportern aus dem Umland in den Ort gebracht und dort entweder durch die Straßen und Gassen zur Arena hin getrieben (abrivado) oder aber, wie auf den oben gezeigten Bildern zu sehen), von der Arena wieder zurück auf die Weiden (bandido). Wobei es in der heutigen Praxis für die Stiere eigentlich heißt: raus aus dem engen, dunklen Transporter, in Panik durch die engen Straßen voller Menschen (meist hinter den Absperrgittern), rein in den nächsten Transporter, ständig angetrieben von den Jungs (und Mädels) hoch zu Pferde mit ihren langen, spitzen Stangen. (Das gesamte Festprogramm und einige Hintergrundinfos mitsamt Fotos sind hier zu finden.)
Die Reflexion: Ich sage es ganz offen, ich bin ziemlich zwiegespalten über diese ganze Angelegenheit – „tradition taurine“ hin oder her. Natürlich beeindrucken auch mich die archaisch anmutende Atmosphäre, die schnaubend-nervösen Pferde, die athletischen Reiterinnen und Reiter und dann der gedrungen-muskulöse Stier.
Und zugleich denke ich: Was soll das, was machen die da? Pferchen die Stiere in einen LKW ein, jagen sie einen nach dem anderen mit Stangen hinaus ins Freie (das machen die Jungs auf dem Dach), wo diese dann panisch losrennen etc. (s. oben). Und für wen das alles? Für die lokale Bevölkerung und die Bewahrung ihrer kulturellen Traditionen? (Als ob dieses Argument irgendetwas rechtfertigen würde.) Für mich als Touristen, damit ich in den Ort komme und meine paar Euros dort ausgebe? Oder gar für Blogautoren, damit sie den Namen Grau-du-Roi in die Welt hinaustragen?
Ich habe keine klare Haltung dazu, aber doch eine Tendenz. Und Ihr? Eine Protestaktion von Tierschützern habe ich übrigens nicht gesehen.
15. September 2022
Sebastian Schröder-Esch
(www.schroeder-esch.de)
PS: Nicht alles in Le Grau-du-Roi dreht sich übrigens um den Stier. Manches auch um den Wind und das Meer, so wie bei Sylvain und den anderen.
Hi Sebastian. Toller Beitrag und sehr interessant. Erinnert mich irgendwie an die Corrida in Spanien. Hat für mich definitiv ein „Gschmäckle“.
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Ja Horst, mich erinnert Sebastians Artikel auch an die Corrida, genauer gesagt an ein Lied des französischen Chansonniers Francis Cabrel „La corrida“. Da geht es um einen Stierkampf aus Sicht des Stieres. Aber nicht um seine Angst, sondern der Blick eines stolzen Tieres auf das Tamtam der Menschen. Eine zentrale Liedzeile (in der deutschen Version) lautet: „Kann man diese Welt ernst nehmen?“ und da knüpft das Lied, meiner Meinung nach, an Sebastians Thema an.
Was weit darf Tradition bzw. die, die sie ausüben gehen? Aber auch: Habe ich als Aussenstehende überhaupt das Recht, diese zu kritisieren, nur weil sie mir fremd und befremdlich ist?
Danke Sebastian, für den ungewöhnlichen Artikel!
P.S. Das Lied gibt es auch als deutsche Version von der Band Felix Meyer- Die Corrida: Absolut zuhörenswert.
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Vielen Dank für Deine ausführliche Entgegnung und Ergänzung, Steffi! Das empfohlene Lied möchte ich mir unbedingt mal anhören. Also ich beanspruche für mich auf jeden Fall das Recht, solche Sachen wie hier mit den Stieren distanziert und kritisch zu betrachten. Denn „Kultur“ oder auch „Tradition“ rechtfertigt zunächst einmal gar nichts und ist kein Freifahrschein für alle möglichen Praktiken. Die Stiere sind einfach mal Tiere, die hier unnötigerweise einem enormen Stress ausgesetzt werden, damit Menschen sich in Szene setzen und amüsieren können. Und das kann, ja muss man kritisieren (dürfen). In diesem Sinne nehme ich die Welt ernst, ja 🙂
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Vielen Dank, Horst! Also spannend war die ganze Situation allemal. Und mit einer besseren („richtigen“) Kamera hätte man da noch deutlich mehr rausholen können. Aber wie Du ja auch schreibst: so ganz vorbehaltlos toll finden kann man das Ganze nicht…
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